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laudatio: Prof.Dr. Inge Stephan

Gaben der Liebe  oder die Auferstehung des  Briefes  im Bild



Ruth Tesmar hat für ihre Ausstellung das Motto „Dein Lied ist drehend wie das Sterngewölbe“ gewählt. Es ist  dem Gedicht Unbegrenzt  entnommen und  dem persischen Dichter Hafis gewidmet.  Dessen  Gedichte las  Goethe im Sommer 1814  - also vor knapp 200 Jahren - in dem kleinen Ort Berka bei Weimar. Sie lösten  in ihm einen wahren Schaffensrausch aus. Am Ende standen  weit über 100 Lieder und Sprüche, zu denen so berühmte Gedichte wie Selige Sehnsucht und Gingo Biloba zählen.  Hafis wurde für Goethe  zu einem 'Zwillingsbruder', mit dem er in einen  edlen 'Dichterwettstreit'  trat, nicht um seinen 'Vorgänger zu übertreffen, sondern um zu der lange  verschütteten  „Dichterquelle“   seiner  Jugendzeit zurückzukehren, die sich  in einem    imaginären  Reich der Poesie jenseits  aller  Zeiten und Völker befindet.


Die Beschäftigung mit Hafis wird zu einer  Reise  in ein bekanntes und zugleich unbekanntes Land. An Knebel schreibt er am 11. Januar 1815: „So habe ich mich die Zeit her meist im Orient aufgehalten, wo denn freilich eine reiche Ernte zu finden ist.“  Der Orient ist für Goethe ein riesiges Gebiet  voller ungehobener Schätze und Kostbarkeiten, er umfasst China, Japan  und Persien ebenso wie das  Land des sagenhaften Eroberers Timur – das heutige Usbekistan mit seinen prächtigen Städten Samarkand und Buchara -  aber auch  das alte Palästina. In einem Brief an Schlosser am 23. Januar 1815 schreibt er:  „China und Japan hatte ich vor einem Jahr fleißig durchreist und mich mit jenem Riesenstaat ziemlich bekannt gemacht. Nun will ich mich innerhalb der Grenzlinien der Eroberungen Timurs halten, weil ich dadurch an einem abermaligen Besuch im jungenlieben Palästina nicht gehindert werde.“  Es sind Reisen im  Kopf und Wanderungen durch Bücher, auf denen sich Goethe eine neue Welt erschließt. Dabei ist er vor allem von der   Sprache fasziniert.  Im bereits angeführten  Brief an Schlosser heißt es: „Wenig fehlt, daß ich noch Arabisch lerne, wenigstens soviel will ich mich in den Schreibezügen üben, daß ich die Amulette, Talismane, Abraxas und Siegel in der Urschrift nachbilden kann. In keiner Sprache ist vielleicht Geist, Wort und Schrift so uranfänglich zusammengekörpert.“


Im Morgenblatt von 1816 kündigte Goethe seine Liedersammlung mit folgendem Titel an „West-Östlicher Divan oder Versammlung Deutscher Gedichte in stetem Bezug auf den Orient“ (268). Die Druckfassung von 1819 wurde zunächst wenig beachtet und kaum verstanden, obgleich Goethe ihr ausführliche „Noten und Abhandlungen“ beifügte, die zeigen, wie wichtig ihm das Werk war. Erst im 20. Jahrhundert hat die Sammlung Anerkennung  gefunden. Inzwischen ist der Divan mit seiner Botschaft, dass Orient und Okzident nicht „zu trennen“  seien  und  die Liebe  als verbindendes Band zwischen den Menschen das eigentliche „Thema“  der Sammlung  sei, zu einem bevorzugten Gegenstand in gegenwärtigen Orientalismus- und Liebesdiskursen geworden.


Wie eng  beide Diskurse zusammengehören, zeigen die Arbeiten von Ruth Tesmar, die sich der Liedersammlung von Goethe über die „Schreibezüge“ nähert und die 'Sprache der Liebe', von der Julia Kristeva gesprochen hat, vor allem als 'Schriftverkehr', als Austauch von Briefen und Liebesgaben,  ins Bild setzt. Mit den vierzig Arbeiten, die  Ruth Tesmar für die  Ausstellung ausgewählt hat, knüpft sie an frühere Arbeiten  wie z.B. ihre skriptoralen Installationen und Buchillustrationen an, für die sie mehrfach ausgezeichnet worden ist. Vor allem Vergleiche  zu    den Briefen  an Leibniz oder zu  der  Bildfolge Itinera litterarum. Auf Schreibwegen mit Wilhelm von Humboldt drängen sich auf und zeigen, dass die Handschrift und der Brief  als inzwischen unzeitgemäss gewordene  Formen der Kommunikation bei Ruth Tesmar schon seit langer Zeit im Mittelpunkt ihres Schaffens stehen.



In ihrem aktuellen Divan-Zyklus, an dem sie zweiundhalb Jahre gearbeitet hat,  gibt sie  dem Brief als Medium  eine ganz neue, aufregende Materialität, wenn sie kostbare, z.T. eingefärbte Büttenpapiere  im alten Briefformat in traditioneller Weise faltet,  aufklappt, schließt und versiegelt, aus  Briefen  und  Umschlägen  Häuser, Pavillons, Schreine, Schatullen   und Liebestempel baut, das Postamt als Sammel- und Verschickungsstelle von Briefen spielerisch in ein Bild einmontiert  oder der  „Magie des Wortes“  -  um auf einen Text des von Ruth Tesmar geschätzten Pawel Florenski zu verweisen -  in verschlungenen Linien und  zaubrischer Farbigkeit  in ihren  eigenen 'Schreibezügen'   nachspürt. Alle Arbeiten sind Unikate.  Dabei mischen sich eigene und fremde Texte in bedeutsamer, manchmal  ironischer Weise.


Es geht  Tesmar  nicht um eine Illustration einzelner Gedichte, sondern um den 'Ton' und die 'Stimmung' der Lieder. So ist es wohl auch nicht zufällig, dass sich als 'Unterlagen' z.T. alte Notenblätter finden, die auf den Liedcharakter des Divans anspielen, mit ihren Linien und Punkten zugleich  aber  auf Grundformen der Schrift und des Schreibens  verweisen. Der Punkt – durchaus  im Sinne des punctum von Roland Barthes zu verstehen – wird zum  geheimen Bezugspunkt eines Schreib- und Malprojektes, in dem sich die Schriftkünstlerin   und die Bildkünstlerin  Ruth Tesmar   begegnen und sich Verbindungslinien  zu Dichtern und Malern der Vergangenheit und Gegenwart ergeben, zu Novalis, Rilke, Klee, Marc, Lasker-Schüler, Höch  aber auch zu Bruno Schulz und H.C. Artmann, nicht zu vergessen zum  Hohen  Lied, das  als gemeinsamer Subtext von Goethes Liebesgedichten  und Tesmars  Schriftbildern erkennbar wird.


Wichtig sind nicht nur die Formen und Farben, sondern auch die Rahmungen und Formate, die Tesmar für ihre Arbeiten wählt.  Neben vierundzwanzig   kleineren   Kästen im Format  60x50    stehen  zehn großformatige  Arbeiten, die Titel wie „Abendlied“, „Morgengabe“, „Memorial“, „Requiem“ oder „Vermächtnis“ tragen und dem längst totgesagten Brief   zu einem  beeindruckenden  Auftritt  verhelfen.  Bei den  letzten fünf Blättern  handelt es sich um kleine sogenannte   Briefhäuser, in denen Tesmar sich vom   Papier und dem Umschlag als Ausgangsmaterialien anregen läßt  und  die  Goethe Äußerung, dass  der Brief wie ein „Fächer“ (25) sei, spielerisch  aufgreift.


Die Arbeiten bestehen aber nicht nur aus Schrift, Texten und Noten,  sie enthalten auch  gepresste Blumen und Blätter, Flügel von Schmetterlingen, aufgespießte  Eintagsfliegen, Federn von Vögeln  kunstvoll hergestelle und verfremdete  Stoffdrucke  sowie Fingerabdrücke,  die auf pflanzliches, tierisches und menschliches Leben verweisen und  mit den erotischen Assoziationen  spielen, welche die  Erinnerungsgegenstände  auslösen  Dabei entwickeln die verschiedenen Materialien auf dem Blatt durchaus ein Eigenleben.


Als ich am 27. Mai dieses Jahres im Menzel-Dach zu Berlin erstmals die Arbeiten von Ruth Tesmar sehen konnte, bot sich mir  ein verwirrendes Bild von ausgebreiteten, sich überlagernden  Gegenständen, Briefblättern, Farbkästen, Notizen, Büchern und Textauszügen. Alles war noch im Entstehen. Auf meine Frage, welche Werke  denn schon fertig seien, erhielt ich die Antwort: „Ich muß das noch beobachten.“ Wie schade, dass sich  dieser Schaffensprozeß als eine ganz eigene  Form der neugierigen und liebevollen Beobachtung der Zusammenstellung unterschiedlicher Materialien der Dokumentation en detail entzieht. Am Ende steht das Werk. Aber diesem ist der Entstehungsprozeß noch anzumerken: Das Papier wird zum Schauplatz  einer innigen  Zwiesprache zwischen  der Schrift und den  Dingen.  Es  ergibt  sich eine eigentümliche Spannung zwischen  den beschriebenen und bedruckten  Bütten- oder Notenblättern  als 'Untergrund'  und  den darüber gelegten abstrakten  Papiercollagen oder  den  farbintensiven Aquarellierungen, in denen orientalische Landschaften mehr zu erahnen als zu erkennen sind. Es entstehen 'Rätselbilder' – Goethe spricht  in seinem Divan vom „Wortbild“  und  „Geheimer Chiffern Sendung“  – die nach Auflösung drängen. „Erklär mir Liebe“ wird Ingeborg Bachmann später sagen.


Bei Goethe wie bei Tesmar geht es um Liebe, genauer um den Liebesbrief, der zwischen den Liebenden zirkuliert und von dem Traum eines „lebendig Wesen“  kündet, das - wie das Blatt des Ginko Biloba - „eins und doppelt“ ist.  „Alles ist Blatt“ heißt  eine Arbeit des Zyklus, in der Tesmar eigene Texte über die altmodische Gewohnheit von Liebenden,  ihren Briefen gepresste   Blumen und Blätter  oder auch abgeschnittene Locken als Gaben  beizulegen, mit historischen  Notenblättern unterlegt und mit  Blütenblättern zu einem Schriftblatt collagiert, das wie ein kostbares Geschenk  an uns Nachgeborene wirkt.  Die  Adressaten   dieses Geschenks sind wir als Betrachtende und Lesende, die den Sinn zu entschlüsseln und auf uns zu beziehen suchen. Goethe spricht in seinem Divan davon, dass  es sich bei der Liebe um  „eine freiwillige Gabe“  handele,   und  es  nicht einfach sei, die „geheime Doppelschrift“   zu entziffern.


Marianne Willemer, die ursprüngliche   Adressatin der Liebesgedichte konnte die „Geheimschrift“  nicht nur  entziffern, sie konnte darauf auch kongenial mit eigenen Gedichten antworten, die anonym in den Divan eingegangen sind. Von ihr stammen auch die sogenannten Chiffre-Gedichte. Sie bestehen aus einer knappen Zahlenfolge, die nur dem  verständlichlich ist, der sie  - wie Goethe – als Hinweise auf Seiten und Zeilen von Divan-Gedichten  auflösen  konnte. Für ihn war es kein Problem  den Angaben  I 404, 19-20 die Nachricht  zu entnehmen, die da lautete:“ Lange hat mir der Freund schon keine Botschaft gesendet / Lange hat er mir Brief, Wort und Gruß nicht gesendet“. Goethe  antwortete darauf mit dem Abschiedsgedicht Und warum sendet, in dem sich die Zeilen finden:


Nicht mehr auf Seidenblatt

Schreib' ich symmetrische Reime;

Nicht mehr fass' ich sie

In goldne Ranken;

Dem Staub, dem beweglichen, eingezeichnet

überweht sie der Wind, aber die Kraft besteht,

Bis zum Mittelpunkt der Erde

Dem Boden angebannt.

Und der Wanderer wird kommen,

Der Liebende. Betritt er

Diese Stelle, ihm zuckt's

Durch alle Glieder.

„Hier! Vor mir liebte der Liebende.

(….)

Er liebte! Ich liebe wie er,

Ich ahnd' ihn!“


Ruth Tesmar ist eine solche Wanderin, die die Liebesbotschaft aufgenommen und verstanden hat. In der Arbeit „Kaleidoskop“  findet sich die selbstironische handschriftliche Notiz „Heute am 22. Juli 2013  in Schwerin habe ich den DIVAN verstanden. Das Rätsel ist ...“  Es bleibt Ihnen überlassen, sich heute am 22. August 2013  auf Ihre eigene Seh-und Entdeckungfahrt  mit den Bildern von Ruth Tesmar zu begeben.


Inge Stephan, 22. August 2013 in Weimar                                                                       zurück